Was wäre die Schachwelt ohne Streitfälle? Wir schreiben das Jahr 1963. Im Schachbezirk Hannover gibt es Zoff, weil offenbar jemand eine verlorene Stellung in einen Sieg umwandeln will. Sein Gegner hat wohl die Notationspflicht nicht korrekt eingehalten. Der damalige 1. Vorsitzende Artur Friedrich hat sich daraufhin Rat aus dem Berliner Engelhardt-Verlag geholt. – Die Antwort ist so köstlich, dass sie auch nach 51 Jahren nichts von ihrem Unterhaltungswert verloren hat. Klar und eindeutig sei die Antwort, meinte Artur Friedrich und informierte die beteiligten Personen mit diesem Brief:
Im Engelhardt-Verlag muss ein Schelm gesessen haben; so einer wie Vlastimil Hort. Jedenfalls einer, der den Negations-Weltrekord brechen wollte. Unter Stilpäpsten gilt bereits eine doppelte Verneinung als Katastrophe, aber diese Anzahl von Verneinungen durch „nicht“ ist einmalig. Die beiden Kernsätze sind voll davon:
„Eine Aufforderung des Gegners, die fehlende Notation nachzuholen, dürfte bei Nichteinhaltung dieser Aufforderung nicht genügen, dem Säumigen die Partie als verloren zu rechnen. […] Daß das Aufschreiben einer Partie keinen Sinn habe, wenn Nichtaufschreiben nicht bestraft wird, kann man nicht gut behaupten wollen.“
Ich übersetze das mal in verständliches Deutsch: Hinterfotziges Reklamieren ist uncool!
An der Aufzeichnungspflicht von damals hat sich wenig geändert. Aktuell gilt dafür Artikel 8 der FIDE-Schachregeln. Ganz und gar nicht geändert hat sich das Verhalten von Schachspielern. Es gibt immer noch solche und solche. Schiedsrichter können in Streitfällen hilfreich sein, sind es aber nicht automatisch, weil es unter Schiedsrichtern auch solche und solche gibt.
Ich schreibe jetzt nix über die Kunst der Juristen Sätze zu formulieren, bei denen ich am Ende den Anfang noch Mal lesen muss, um den Satz zu verstehen…
Sondern möchte daran erinnern, daß Artur Friedrich zu dieser Zeit Mitglied der Schachvereinigung Hannover von 1919 e.V. war. Einer der Fusionspartner der heutigen Schachfreunde Hannover von 1919 e.V. Artur Friedrich habe ich nicht mehr kennengelernt, aber Karl Friedrich war Vorsitzender der SVg Hannover als ich 1980 dort eingetreten bin und seine Frau Thea Friedrich nach der Fusion auch Ehrenmitglied der SF Hannover.
In der Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Schachvereinigung habe ich folgendes über Thea Friedrich gefunden:
Thea Friedrich hat zu dem Zeitpunkt (1969) 12mal hintereinander an den niedersächsischen Damenmeisterschaften teilgenommen. Das ist beachtlich. Niedersachsenmeisterin wurde sie allerdings nie. Da Thea nach Aussage von Michael die Ehefrau von Karl Friedrich ist, und der Karl auf dem Foto der Festschrift so alt aussieht wie ich heute, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie noch am Leben ist. Eigentlich müsste Jürgen Juhnke etwas über Thea wissen. Jürgen war damals der Superstar in der Schachvereinigung.
Wenn anständiges Juristendeutsch für eine Erheiterung sorgt, hat es seinen Zweck erfüllt. Der Streit ist beigelegt, der Schwank überdauert Generationen. Ob gewollt oder ungewollt ist es dem Juristen, Poeten oder Bildhauer gelungen, 10x das Wörtchen „nicht“ in der Urteilsbegründung unterzubringen. Dazu kommen andere Verneinungen wie „kein“. Dieses Festival an Negationen hat einen Platz in jeder Stilfibel verdient. Der Klassiker unter den Verneinungen ist folgender Witz aus der DDR:
„Gibt’s denn hier keine Unterhosen?“, fragt ein verärgerter Kunde im Kaufhaus.
„Nein, hier gibt’s keine Badehosen“, antwortet die Verkäuferin, „keine Unterhosen gibt’s eine Etage tiefer.“
Ich weiß, dass ich nichts weiß. Was meine Erinnerung noch hergibt zu den Friedrichs, ist:
Artur Friedrich war Vorsitzender des Schachbezirks Hannover und spielte in der 1. Mannschaft der SVH. Er war wohl verantwortlich für die Schachnachmittage im neu erbauten FZH Linden, wo die aufstrebende Jugend von SVH-Mitgliedern unterrichtet wurde und wo ich 1962 erstmals auf organisierte Schachspieler traf. Teils unterrichtete Artur Friedrich selbst, er war aber beruflich sehr engagiert. Gert Völpel löste ihn ab, später kam mein großer Lehrmeister Johannes Gigas, Niedersächsischer Landesmeister von 1926. Als ich 1966 als frisch gebackener Niedersächsischer Jugendmeister (im SV Linden) bei der SVH vorfühlte, wie es weiter gehen könnte, verzichtete Artur Friedrich spontan auf seinen Platz in der 1. Mannschaft zu meinen Gunsten. Wenig später freute er sich darauf, nach seiner Pensionierung aktiv Schach zu betreiben. Leider überlebte er diese nur wenige Wochen wegen einer scheinbar harmlosen Erkältung.
Karl Friedrich, mit Artur weder verwandt noch verschwägert, ist mir als Organisator und Spieler in einer unteren Mannschaft (ich meine, der 2.) erinnerlich. Er wurde zur Unterscheidung „Fisch-Friedrich“ genannt, da er ein Fisch-Geschäft betrieb (ich erinnere mich kaum noch, ich glaube, es war in der Sallstraße).
Karls Frau Thea verschwindet bei mir nahezu im Nebel des Vergessens. Mit Sicherheit war sie keine starke Spielerin. Ich meine, dass sie nicht nur ihren Mann, sondern – wie viele andere auch – den Verein bzw. das Vereinsleben stark unterstützt hat. Geselligkeit wurde damals (60er / 70er) hoch gehalten, Trinkspruch war „Frei Schach!“, aber das ist wieder ein anderes Thema.
Danke Jürgen, deine Antwort kam prompt und ausführlich. Karl Friedrichs Fischgeschäft befand sich übrigens in der Sallstraße 27. Das entnehme ich einer Anzeige aus der von mir erwähnten Festschrift. Karls Geschäftsmotto lautete: „Fisch-eine gesunde Kost und immer eine Abwechslung auf dem Küchentisch.“ Wenn du heute nach Sylt fährst, kommst du an Plakaten vorbei, auf denen steht: „Rettet die Fische, esst mehr Steaks!“
Wir retten gerade die Reste unserer Erinnerungen. Dazu passt auch die Anzeige von diesem Schachfreund: „Transporte-Umzüge führt preiswert für Sie durch Wolfgang Rosin, 3011 Letter.“ Wolfgang war 1x Vereinsmeister der Schachfreunde Badenstedt, und zwar 1966, und 6x Blitzmeister 1964-68 und 71. Wolfgang war – und ist es vermutlich immer noch – eine schillernde Persönlichkeit. An vielen Doppelkopfnächten (siehe Helmut Reefschläger) war er beteiligt.
Das Transportgeschäft hatte er satt. Es war eine Knochenarbeit, weil er seinen LKW nicht nur fahren, sondern auch häufig selbst be- und entladen musste; oft auch am Wochenende. Dann kam die Wende in seinem Leben. Das Land Niedersachsen hatte ein Gesetz für die Legalisierung des Glückspiels verabschiedet. Im Jahr 1974 sollte u.a. am Maschsee ein Casino eröffnet werden. Dafür wurden „Angestellte“ benötigt. Da Croupiers Mangelware waren, wurden sie nicht nur per Annonce gesucht, sondern als solche ausgebildet. Wolfgang bewarb sich, wurde angenommen, verkaufte seinen LKW und wurde Croupier. Fortan war er in seinem Element. Anfang der achtziger Jahre verschwand Wolfgang aus der hiesigen Schachszene.
Hat Meister Zufall wieder zugeschlagen? Seit 35 Jahren habe ich nichts mehr von Wolfgang Rosin gehört. Dann sehe ich beim Blättern in einer Festschrift aus dem Jahre 1969 eine Anzeige von ihm, ich recherchiere im Internet und finde ein Foto aus dem Jahre 2007, auf dem er zu sehen ist, und schreibe den vorigen Kommentar. Wenige Stunden später geschieht das Unfassbare. Helmut Reefschläger, auch so ein Verschollener aus der damaligen Zeit, ruft mich an. Wir plaudern über dieses und jenes, und ich stelle ihm die Frage nach dem Verbleib von Wolfgang Rosin. Helmuts Auskunft ist leider sehr traurig. Wolfgang Rosin sei vor ein paar Jahren verstorben.
Es kehren Erinnerungen zurück an eine Zeit, als wir das Leben noch vor uns hatten, an Wolfgangs erste Ehefrau Ilona, an seine Tochter, an Stichkämpfe um die Bezirksmeisterschaft, an unzählige Doppelkopfabende und an Wolfgangs beruflichen Weg in die Welt der Zocker. Wolfgang war ein umtriebiger Mensch. Und so spielte er Schach. Unorthodox und aus dem Bauch heraus. Dadurch war er brandgefährlich. Ich möchte euch zwei Partien von ihm zeigen, die er 1976 im Internationalen Meisterturnier gespielt hat, das anlässlich des 100-jährigen HSK-Jubiläums ausgetragen wurde. In diesem Turnier blitzten seine starken Seiten auf. Er holte 5 Punkte aus 11 Partien und landete sogar vor Helmut Reefschläger. In der 1. Partie, die jetzt folgt, schlug er IM Axel Ornstein (Schweden/ELO 2470) und in der 2. Partie verlor er in einem sehenswerten Duell gegen den Turniersieger GM Istvan Csom (ELO 2490) aus Ungarn.
Wolfgang wurde am 16.10.1945 geboren. Richtig alt wurde er nicht. Der wichtigste Lehrsatz unter Zockern lautet: „Geier können warten!“ Bei dir, lieber Wolfgang, hat offenbar eine Partei zu früh gezuckt.
Ford Fiesta
In der Nacht von Freitag auf Samstag gab es in Hannover einen schrecklichen Unfall. Die Schlagzeile in der HAZ lautet: Fiesta schleudert auf Westschnellweg in Gegenverkehr: Zwei Tote
Rückblick: Vor 42 Jahren saß ich in einem Ford Fiesta, als auf dem Südschnellweg etwas Unglaubliches passierte. Der Fiesta gehörte Ilona, Wolfgangs damaliger Ehefrau. Wir waren am frühen Abend zu zweit von Anderten auf dem Weg in die Innenstadt. Die Brücke über der Hildesheimer Straße war unser Schicksal. Die Brücke ist inzwischen marode und wird demnächst erneuert. Damals gab es zwischen den je zweispurigen Fahrbahnen keine Trennung. Heute stehen dort Leitplanken.
Wir befanden uns wenige Meter auf der Brücke. Dann kam der Augenblick, den ich nie vergessen werde: Das Auto drehte sich während der Fahrt urplötzlich um die eigene Achse! Wir schleuderten dabei vom rechten Fahrbahnrand auf den linken und standen auf der Gegenfahrbahn in umgekehrter Fahrtrichtung. Wir hatten mehrere Schutzengel: Es kam uns gerade kein Fahrzeug entgegen, es folgte uns gerade kein Fahrzeug, wir blieben auf der Fahrbahn und fielen nicht von der Brücke. Das Auto kippte nicht um und nahm keinen Schaden. – Ilona und ich waren geschockt. So, wie der Fiesta zum Stehen gekommen war, fuhren wir weiter: heimwärts. Unser ursprüngliches Fahrtziel hatte sich erledigt. Wie es zu dem technischen Problem kam, blieb uns ein Rätsel. Ilona hatte keinen Fahrfehler gemacht.
Seit ewigen Zeiten habe ich nichts mehr von Ilona gehört. Das sollte sich am vergangenen Samstag am Rande des NSV-Kongresses ändern. Mit Heinz-Jürgen Gieseke habe ich über die alten Zeiten geplaudert. Die Eheleute Rosin und Gieseke lebten damals nebeneinander in einem Mietshaus, die einen unten, die anderen oben und ich als Junggeselle um die Ecke. Als die Sprache auf Ilona kam, musste ich sofort an das von mir geschilderte Ereignis denken. Eine Woche später widerfährt mir dieses entsetzliche Déjà-vu: Ein Fiesta gerät auf dem Westschnellweg ins Schleudern. Mit tragischem Ausgang. Das Leben hängt manchmal an einem seidenen Faden.