Arbeiterschach

Arbeiter sind unter Schachspielern so selten geworden wie Mettbrötchen auf dem Speiseplan von Angela Merkel. Das hat seine Gründe. Bei Angela sind die offensichtlich, bei Schachspielern müssen wir die Geschichtsbücher bemühen oder in die Annalen des eigenen Vereins gucken. Die Fusion der beiden Vereine „Schachfreunde Hannover“ und „Schachvereinigung Hannover“ im Jahre 2001 hat auch namentlich zu einer Verschmelzung geführt. Der Name „Schachvereinigung“, der aus dem „Arbeiter-Schachklub-Hannover“ hervorgegangen ist, wurde zugunsten der Schachfreunde getilgt, aber das Gründungsdatum 1919 blieb im offiziellen Vereinsnamen erhalten. Nun habe ich persönlich meine Wurzeln bei den Schachfreunden und kann deshalb wenig zur Geschichte des Arbeiter-Schachklubs beitragen. Es gibt jedoch Zeitgenossen, die unter Schachspielern großgeworden sind, die die Härte des Klassenkampfes erlebt haben. Dazu gehört Jürgen Juhnke.                                  

Jürgen Juhnke anno 1987
Jürgen Juhnke anno 1987

Das Foto stammt aus einem verblichenen HAZ-Artikel. Jürgen war damals Vierter bei den offenen Niedersachsenmeisterschaften geworden. – Als die Schachvereinigung ihr 50jähriges Jubiläum feierte, war Jürgen Juhnke ein junger Spund und als solcher einer der besten Nachwuchs-Schachspieler Deutschlands. Unser Blog hat Jürgen dazu angeregt, Erinnerungsstücke hervorzuholen. Etwas davon werde ich gleich präsentieren. Zunächst möchte ich jedoch auf die Geschichte der Schachvereinigung im Besonderen und die des Arbeiterschachs im Allgemeinen eingehen.                                 

Deckblatt der Festschrift von 1969
Deckblatt der Festschrift von 1969

Auf unserer Webseite findet ihr unter „Historie“ folgenden Artikel, den Jürgen Reschke anschaulich geschrieben hat: Historie

Ein epochales Werk über die „Geschichte des deutschen Arbeiterschachs“ hat Gerhard Willeke verfasst. Er verstarb kurz bevor sein Buch im Jahr 2002 veröffentlicht wurde. Auf 340 Seiten hat Gerhard Willeke akribisch das zusammengetragen, was heute auf den ersten Blick niemand interessiert. Deshalb habe ich das Buch zunächst belächelt, als ich davon erfuhr. Auf den zweiten Blick ist es hilfreich, unsere Geschichte zu verstehen. Nicht nur die Geschichte des Arbeiterschachs, sondern die Geschichte unserer Gesellschaft, die 1933 mit der Machtübernahme durch die Nazis eine grauenhafte Entwicklung nahm. Das Buch könnt ihr im Internet aufrufen: Arbeiterschach-neu.pdf wissenswertes über die Geschichte der Schachvereinigung. Auf den Seiten 259 und 260 erfahrt ihr etwas über den „Arbeiterschachklub Turm Anderten“. Am 11. Mai 1933 war Schluss mit dem Arbeiterschach in Deutschland. Diejenigen, die sich nicht fügten, wurden gnadenlos verfolgt (siehe z.B. Seite 300+301), die anderen verkauften ihre Seelen mit „Ergebenheitsbekundungen“.

Zurück zu Jürgen Juhnke. Zu den Erinnerungsstücken, die er mir geschickt hat, hat er folgendes geschrieben:

„In der SVH wurde zu meiner Zeit nicht über Politik gesprochen, zumindest bemerkte ich nichts dergleichen. Auch die Hintergründe des regelmäßig angewandten „Frei Schach!“ erfuhr ich nicht (fragte vielleicht auch nicht nach). Schachfreund – vielleicht darf ich auch sagen Schachgenosse – Karl Danne war zu meiner SVH-Zeit (Ende 60er) bereits recht alt und vermachte mir einige Hefte der Arbeiter-Schachzeitung aus den 20er/30er-Jahren. Ich hielt diese stets in Ehren und leitete sie viel später weiter an die Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Deckblätter kopierte ich – siehe Anhang – und verweise auf den Haupt-Artikel des Heftes vom März 1933 über Karl Marx und Wilhelm Liebknecht als Schachspieler. Vielleicht gaben solche Geschichten den Genossen Trost in schwerer Zeit, sind auch heute noch nett zu lesen.“

DAS Nr. 3 März 1933 Deckblatt
DAS Nr. 3 März 1933 Deckblatt
DAS Nr. 3 März 1933 Seite 42
DAS Nr. 3 März 1933 Seite 42

Das mit dem „netten Lesen“ sehe ich so wie Jürgen. Karl Marx war bereits 50 Jahre tot, und Wilhelm Liebknecht starb 1926. Der Sohn von Wilhelm, Karl Liebknecht, wurde 1919 im Gründungsjahr des Arbeiter-Schachklubs-Hannover ermordet. Unabhängig von ideologischen Brillen zeigt diese Anekdote, dass es unter Schachspielern stets „gemenschelt“ hat und ewig „menscheln“ wird. Die Nummer 3 aus dem März 1933 war womöglich die letzte Ausgabe der Arbeiterschachzeitung DAS.

Angesichts der aktuellen Diskussionen um die Aberkennung der Fördermittel durch das BMI, das dem Schachspiel „sportspezifische eigenmotorische Bewegungen“ abspricht, ist der folgende Aufmacher „Sport- oder Kulturkartelle?“ aus dem Jahr 1932, Heft Nr. 9, geradezu prophetisch.

DAS Nr. 9 September 1932 Deckblatt
DAS Nr. 9 September 1932 Deckblatt
Wilhelm Liebknecht Briefmarke aus 1955
Wilhelm Liebknecht Briefmarke aus 1955
Jürgen Juhnke anno 1969

9 Gedanken zu „Arbeiterschach“

  1. Da ich ursprünglich Wilhelm Liebknecht mit seinem Sohn Karl verwechselt hatte, habe ich über ihn recherchiert und dabei eine Briefmarke auf dem Jahr 1955 gefunden, die in der DDR herausgebracht wurde. Es ist meines Wissens die einzige Briefmarke, die es zu Ehren Wilhelm Liebknechts gibt. Über Karl Marx und Karl Liebknecht gibt es jede Menge Briefmarken in Ost und West. Für die Philatelisten unter euch habe ich diese Briefmarke meinem Beitrag angefügt. Übrigens bin ich im Besitz nahezu aller DDR-Briefmarken und BRD-Briefmarken bis 1990.

  2. Heute vor 15 Jahren verstarb Gerhard Willeke. Für die Nachwelt hat er ein Buch hinterlassen, auf das ich vor 2 ½ Jahren in meinem Beitrag „Arbeiterschach“ hingewiesen habe. In diesem Buch zu blättern, macht die Erinnerung lebendig; nicht nur an Gerhard Willeke, sondern an unsere Geschichte. Den Link findet ihr in meinem Beitrag. Auf der Titelseite steht folgendes Gedicht:

    Wer Logik liebt und Phantasie
    Und Freude hat am Denken,
    Der soll zu einer Schachpartie
    Die Schritte zu uns lenken.

    Für heutige Ohren klingt es ein wenig angestaubt, gleichwohl ist der aktuelle Lenkungsprozess weit davon entfernt, am Schachspiel interessierte Menschen auf Trab zu bringen.

    „Gerhard Willeke wurde 1929 als Arbeitersohn im „roten“ Hannover-Linden geboren. Er hat sich Zeit seines Lebens für das Schachspiel und seine „bildende“ Kraft eingesetzt. Er starb im Oktober 2001, kurz vor der Fertigstellung dieses Buches.“ (Vorwort)

    By the way: Vor drei Wochen hat Linden bekanntlich gewählt. Wenn man „rot“ mit der SPD assoziiert, hat diese zum zweiten Mal in ihrer über 150-jährigen Geschichte nicht gewonnen. Die Grünen haben ihr den Rang abgelaufen. Da die alte Farbenlehre so veraltet ist wie Arbeiterschach aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, ergibt sich folgendes Farbspiel: rot = kunterbunt. Danach sieht es im Bezirksrat so aus: 3:18 Stimmen für die anderen. Das dürfte deutschlandweit einmalig sein. Gerhard Willeke würde stolz sein. Ein Foto von ihm (und mir in jungen Jahren) findet ihr hier:
    http://www.schachfreunde-hannover.de/wp-content/uploads/2015/05/Braunschweig-69.jpg

  3. Willkommen im Ü70-Club

    Heute wird einer der ganz großen Schachspieler Niedersachsens 70 Jahre alt: Jürgen Juhnke

    Vom Jugendmeister bis zum Seniorenmeister hat er in Niedersachsen alle Titel abgeräumt.
    1966/67/68 Jugendmeister von Niedersachsen
    1973 Meister von Niedersachsen
    2019 Seniorenmeister von Niedersachsen

    Dazu kamen vor allem in jungen Jahren viele weitere Erfolge; z.B. 1968 sein geteilter 1.-3. Platz bei den Deutschen Jugendmeisterschaften. Vor 50 Jahren war Jürgen Schriftführer der Schachvereinigung Hannover von 1919, also dem Verein, der im Dornröschen heuer seinen 100sten Geburtstag gefeiert hat. Die Schachvereinigung hat Jürgen vor einigen Jahrzehnten verlassen. Nun spielt er beim HSK Lister Turm. Für eine echte Laudatio fühle ich mich nicht kompetent, aber meine herzlichen Glückwünsche zum 70. Geburtstag sind ihm auf diesem Wege sicher. Dafür habe ich mir diesen Beitrag aus dem Jahr 2014 ausgesucht. Den haben wir Jürgen zu verdanken. Wenn ihr nach oben schaut, werdet ihr ein Foto von Jürgen finden, das ich neu eingefügt habe. Es stammt aus der von mir erwähnten Festschrift. Damals war Jürgen 50 Jahre jünger.

    1. Juhnke hat bei der Deutschen Jugendmeisterschaft 1968 nicht den 1.-3. Platz geteilt, sondern den 2. und den 3. Platz. Den Stichkampf um den Titel gewann nämlich K.-H. Maeder (3 aus 4) vor Juhnke und Andreas Longwitz (je 1,5).

      1. Was wäre unser Blog ohne deine Klugscheißerei? Jürgen Juhnke hat auf seiner eigenen Webseite geschrieben, dass er den 1. bis 3. Platz belegt hat. Der anschließende Stichkampf ändert nichts daran. Es heißt ja nicht, dass er Deutscher Jugendmeister 1968 geworden ist. Es wäre schön, wenn du ihm noch gratulieren würdest. Darüber würde er sich bestimmt freuen.

  4. Hans-Joachim und Gerhard haben beide recht. Bei der Deutschen Jugendmeisterschaft 1968 in Saarbrücken belegte ich zusammen mit Maeder und Longwitz den 1. – 3. Platz. Daraufhin gab es einen Stichkampf in Bargenstedt, bei dem ich hinten landete.

    Ich bedanke mich für die freundlichen Worte. Irgendwie bin ich gerührt, wenn ohne mein Zutun nach über 50 Jahren über meine Ergebnisse diskutiert wird.

    1. Humanistische Werteorientierung

      Sollte es eine Neuverfilmung von „Pappa ante Portas“ geben, schlage ich Hans-Joachim für die Hauptrolle des zwanghaft ordentlichen Frührentners vor. Wer einen Geburtstagsgruß dafür benutzt, ein über 50 Jahre altes, völlig nebensächliches Detail in den Vordergrund zu stellen, statt den Jubilar zu beglückwünschen, dient als Mahnung für die heutige Jugend. Wenn unser Blog dazu beiträgt, die Grundwerte unserer Gesellschaft ins Bewusstsein zu rufen, hat es seinen Zweck erfüllt.

      Dass du gerührt bist, Jürgen, freut mich trotzdem. Nun sind wir beide 70 Jahre alt und können auf ein erfülltes Leben zurückblicken, in dem das Schachspiel eine wichtige Rolle gespielt hat. Auch unsere kommenden Jahre werden davon bestimmt sein. Ein „geiles Leben“ ist nicht selbstverständlich. Angesichts einer divergierenden Gesellschaft – auch in der Schachszene – bedarf es einer Orientierung, die von Humanismus geprägt ist. Optimismus und Fröhlichkeit müssen dabei im Vordergrund stehen.

  5. Sensationelles Zeitdokument

    Die Enkelin von Karl Danne hat sich gemeldet und uns zwei historische Fotos mit diesen Worten geschickt:

    Im Rahmen einer Familienrecherche über meinen schon lange verstorbenen Großvater Karl Danne aus Hannover-Kleefeld bin ich auch auf einen Artikel in Ihrem Blog gestoßen, in dem er nicht nur erwähnt wird, sondern auch die überlassene Kopie der Arbeiter Schachzeitung hat seinen persönlichen Adress-Stempel drauf. Er hat sich sein Leben lang für Schach interessiert, selbst gespielt, später in den 70ern? den Kleefelder Schachclub mit aufgebaut und mich als Kind damit fasziniert, dass er in hohem Alter noch Simultan-Schach spielen konnte. Jetzt bin ich bei alten Unterlagen auf ein weiteres „Relikt“ gestoßen: Mein Großvater hat einmal bei einer „lebendigen Schachpartie“ im damaligen Hindenburg-Stadion in Hannover teilgenommen (heute Eilenriede-Stadion), das war irgendwann zwischen 1927 und 1929. Das Foto habe ich beigefügt, vielleicht ist es ja mal etwas für den Blog oder Vereinsarchiv. Auf alle Fälle ein Zeitdokument zum Thema Schach in Hannover!

    Herzliche Grüße
    Annette Peter geb. Danne, Hannover

    Im Namen aller, die sich für Geschichte im Allgemeinen und die des Schachs im Besonderen interessieren, möchte ich Frau Annette Peter für ihren Beitrag außerordentlich danken. Ihren Großvater Karl Danne findet ihr in der hinteren Reihe. Er trägt eine Kopffigur und ist der 7. von rechts. Zum Anschauen und Staunen klickt ihr hier.

  6. Schachklub Anderten von 1922

    Wenn auch die Hoffnungen der eifrigen Freunde unseres Klubs, denselben zu einem festen Gefüge und einer Unentbehrlichkeit für alles schaffende Volk, um ihre Denkkraft zu heben und zu fördern, nicht ganz erfüllt sind, mit Stolz die Wahrnehmung machen, dass sich unser edles Spiel bei der hiesigen Arbeiterschaft immer mehr und mehr eingebürgert und verbreitert und bahnbrechend gegenüber allem Schund und Laster und Glücksspiel wirkt. […]

    Dieses Dokument wurde 1921 in der Deutschen Arbeiterschachzeitung veröffentlicht. Es stammt aus dem Jahr 1920 und dient als Beleg für die Gründung des Schachklubs Anderten im Jahr 1922. – Die Zeiten haben sich geändert, der sprachliche Duktus auch, schachspielende Arbeiter sind ausgestorben; allein Schund, Laster und Glücksspiel gibt es wie eh und je.

    Morgen veranstaltet der SK Anderten ein neumodisches „Rapid Rumble“. Meine Tageszeitung berichtet heute darüber unter der Überschrift: Großmeister in Misburg. „150 kluge Köpfe können an die Bretter, etwa 30 Plätze sind noch frei“, steht in dem Artikel. Schade eigentlich! Wenn die Teilnahmebedingung ein „kluger Kopf“ ist, muss ich leider passen.

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