„Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt“, sprach einst Napoleon Bonaparte. Das ist der, den sie jetzt wegen unserer Waterloosäule aus dem Schrank geholt haben. Für uns Schachspieler hat Napoleons Zitat folgende Bedeutung: „Vom Meisterspieler zum Patzer ist es nur ein Zug.“ Als Beweis sollen zwei Niederlagen dienen, die ich 1998 und 2001 beim Sportland Open in Senden kassiert habe. Der Patzer war und bin ich wohlgemerkt.
Senden kann vieles heißen. In diesem Fall handelt es sich um den idyllischen Ort im ebenso idyllischen Münsterland. Zweimal habe ich dort jeweils im Oktober am Open teilgenommen. Damals hießen die Open „Sportland“, heute „Münsterland“. In den Anfangsjahren war das Niveau außerordentlich hoch. Im Jahr 1998 waren 13 Großmeister und 7 Internationale Meister dabei. Es gewann Daniel Friedmann mit 7,0 Punkten aus 9 Partien. Mit am Start war der damals blutjunge Arkadij Naiditsch. Mit 5,0 Punkten belegte er am Ende den 20. Platz.
In der 6. Runde hatte ich mit Weiß den Bundesligaspieler FM Timo Sträter (ELO 2340) in einer sehenswerten Partie geschlagen (guckt ihr meinen allerersten Blog-Beitrag). In der folgenden 7. Runde konnte ich einen weiteren Sieg gegen einen Bundesligaspieler einfahren, und zwar gegen Lars Thiede (ELO 2355) von den Schachfreunden Berlin. Es war so leicht (hinterher).
Diese Stellung hatten wir nach dem 33. Zug auf dem Brett. Weiß hatte zuvor inkorrekt auf e5 eine Figur geopfert:
IM Lars Thiede – Gerhard Streich
Welcher Zug gewinnt? Ohne viel Federlesens hätte 33…Sxh3+! gewonnen. Ich entschloss mich zu 33…Sxd5?! und verlor später sogar im Endspiel, obwohl ich zwei Leichtfiguren gegen einen Turm hatte. Fairerweise zeigte mir Lars Thiede nach der Partie, dass 33…Sxh3 für ihn tödlich gewesen wäre. Ich hatte den Zug zwar auch gesehen, aber in der verbliebenen, knappen Bedenkzeit verworfen. Das ist halt der Unterschied zwischen einem Meister und einem Patzer. – Am Ende belegte Lars Thiede den 9. Platz mit 6,0 Punkten. Ich verpasste indessen ein ausgezeichnetes Turnierresultat.
Drei Jahre später (2001) war ich wieder in Senden. In der 2. Runde traf ich auf den Favoriten, GM Giorgi Kacheishvili (ELO 2583) aus Georgien. Er wurde seiner Favoritenrolle gerecht und gewann nicht nur gegen mich, sondern souverän das ganze Turnier. In der aktuellen Webseite des Veranstalters ist dazu folgendes zu lesen:
„Einen klareren Sieg kann man sich kaum vorstellen: GM Giorgi Kacheishvili erspielte sich sieben Siege bei zwei Remisen. Seine Partien wirkten dabei allesamt klar, geradezu einfach. Da zeigt sich wahres Können: scheinbar mühelos das zu erreichen, was anderen auch bei großer Anstrengung nicht gelingt. Der Georgier wirkt stets gut gelaunt. Ob ihm der Erfolg in Senden wichtig ist? Ja, schon. Aber in seiner großen Zeit hat er einmal in den USA von acht gespielten Turnieren sieben gewonnen. Und damit läßt sich das jetzt nicht vergleichen…“
In meiner Partie gegen ihn stand es allerdings Spitz auf Knopf. Für ein bisschen Angriff hatte ich eine Figur geopfert. Nach dem 31. Zug von Weiß war ich vor eine schwierige Frage gestellt:
GM Giorgi Kacheishvili – Gerhard Streich
Seinen letzten Zug hatte der Georgier ziemlich schnell ausgeführt. Natürlich habe ich sofort gesehen, dass der Turm auf b1 hängt. Ich war mir nicht sicher, ob es ein Versehen, ein Bluff oder ein genialer Zug war. Ich entschloss mich zu 31…Sh5. Der Zug versprach eine anhaltende Initiative, aber irgendwann gelang es meinem Gegner seinen König in Sicherheit zu bringen, und es war aus mit dem Großmeisterskalp. Heute würde ich zu 31…Sh3+ nebst Dxb1 greifen. Die Chancen, die Partie im Gleichgewicht zu halten, wären gut. – In diesem Open erkämpfte ich mir übrigens gegen die damals 16-Jährige Elisabeth Paehtz ein Remis. Diese Partie findet ihr ebenfalls in unserem Blog.
Die Partien gegen Lars Thiede und Giorgi Kacheishvili könnt ihr in meinem Kommentar in voller Länge nachspielen. – Das war’s mit dem Sendener Rückblick. Bezüglicher weiterer Open-Auftritte meinerseits sage ich: „See you later, Alligator!“