Bergen ruft!

Den ersten Absatz meines Beitrags habe ich wegen des larmoyanten Inhalts gestrichen. Ich fange gleich mit dem zweiten an. Es geht um Seniorenschach. Vor einem Vierteljahr hat mich Reinhard Piehl, das ist der Seniorenreferent des Niedersächsischen Schachverbands, gefragt, ob ich an der Deutschen Seniorenmannschaftsmeisterschaft teilnehmen wolle. Nach kurzem Zögern habe ich zugesagt. Es ist eine Ehre für mich, denn normalerweise muss man sich dafür über die Landesmeisterschaften qualifizieren. Am kommenden Sonntag, dem 31. August, fahren wir los. Vom 1. bis 7. September werden 7 Runden gegen andere Landesverbände nach dem Schweizer System gespielt. Niedersachsen wird mit zwei 4er Mannschaften teilnehmen. Die endgültige Aufstellung wird vor Ort festgelegt. 

Wir fahren nach Bergen. Für die zahlreichen ü60-Groupies, die dem Vernehmen nach kiebitzen werden, sei gesagt, dass es sich um den Kurort Bergen im Chiemgau handelt. Also bitte nicht „Bergen in der Lüneburger Heide“ oder „Bergen in Norwegen“ in euer Navi eingeben. Dieses Bergen liegt in Bayern. Das ist der Freistaat, in dem sich noch nicht herumgesprochen hat, dass absteigen zweckmäßig ist, wenn man ein totes Pferd reitet; siehe PKW-Maut. 

Hier ist der Link zur NSV-Seite: http://nds-schachsenioren.nsv-online.de/?p=671

Natürlich werde ich anschließend einen supergeilen Bericht abliefern. Seniorenschach macht sexy. Am 9. September 2014 gibt’s indes ein historisches Datum, das ich zuvor mit einem speziellen Beitrag würdigen möchte. Bis dahin werde ich keinen neuen Beitrag schreiben; allenfalls die Kommentarfunktion nutzen. 

Beim Thema „Seniorenschach“ möchte ich an einen herausragenden niedersächsischen Schachspieler erinnern, gegen den ich ein einziges Mal gespielt habe. Das war 1981. Ich hatte meine Blütezeit (32 Lenze), er befand sich im fortgeschrittenen Alter:   Dr. Heinz-Wilhelm Dünhaupt (* 7. Mai in Bückeburg 1912; † 19. April 1998 in Celle). 

Ich erinnere mich insbesondere seiner, weil er ausgerechnet in dem Jahr, als ich geboren wurde (1949), in Goslar Niedersachsenmeister wurde. Den Titel konnte er dreimal erringen: 1939, 1949 und 1952. Darüber hinaus wurde er dreimal Zweiter: 1948, 1950 und 1962; in den beiden letztgenannten Jahren jeweils hinter Manfred Heilemann. Die vierten Plätze 1953, 1954 und 1959 sollen nicht unerwähnt bleiben. In den Fünfzigerjahren war er nicht nur einer der stärksten Spieler Niedersachsens, er gehörte auch zur 1. Mannschaft des Hannoverschen Schachklubs, die 1959 deutscher Mannschaftsmeister wurde. Eine Schachbundesliga gab’s noch nicht. Obwohl er als Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht in Celle vermutlich genug um die Ohren hatte, gelang es ihm nebenbei, den Titel eines Fernschachgroßmeisters zu erwerben. 

Als er die Partie in der Oberliga Niedersachsen/Bremen gegen mich spielte, war er 69 Jahre alt. Ob es am Alter lag, weiß ich nicht, jedenfalls agierte er derart zaghaft, dass der Sieg für mich das sprichwörtliche Kinderspiel war. Am Ende der Partie zeigte er seine wahre Größe, indem er mir die Hand gab, als die Partie materiell ausgeglichen war. Einen Schönheitspreis hat die Partie nicht verdient, aber einen Platz im Kuriositätenkabinett (siehe 1. Diagramm).

Dr. Dünhaupt, Heinz-Wilhelm – Streich, Gerhard [A05]

HSK-SFH Oberliga Niedersachsen/Bremen, 1981

1.Sf3 Sf6 2.g3 g6 3.Lg2 Lg7 4.0-0 0-0 5.d3 d6 6.e4 c5 7.Sbd2 Sc6 8.c3 Ld7 9.Se1 Dc8 10.f4 Lh3 11.De2 Lxg2 12.Dxg2 b5 Mit meiner Stellung bin ich hochzufrieden. Nach dem Tausch des Fianchetto-Läufers macht die weiße Stellung einen löchrigen Eindruck. Meinem Angriff auf dem Damenflügel hat Dr. Dünhaupt wenig entgegen-zusetzen. 13.Sc2 b4 14.c4 a5 15.Sf3 a4 16.Ld2 Sd7 17.Tab1 b3 18.axb3 axb3 19.Sa1? Ein kurioser Zug. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einen Springerzug auf einem Eckfeld (a1/h1/a8/h8) gesehen zu haben, ohne dass dort eine Figur geschlagen wurde. Dass dort des Öfteren eine Qualität erobert wird, gehört zum Alltag, ansonsten gibt es wohl äußerst selten einen Grund, einen Springer in die Ecke zu stellen.

Stellung nach 19.Sc2-a1
Stellung nach 19.Sc2-a1

19…Ta2!? Damit entlasse ich zwar den Springer aus seinem Verließ, aber freies Figurenspiel war mir lieber. Infrage kam auch: 19… Db7 20. Lc3 und Weiß kann den starken Läufer auf g7 tauschen. 20.Sxb3 Db7 21.Sc1 Txb2 22.Txb2 Dxb2 23.Le3 Tb8 24.Dh3 Die einzige Hoffnung für Weiß besteht in einem Gegenangriff auf dem Königsflügel. 24…Sf8 25.f5 Sd4 26.Sg5 f6 27.fxg6 Das Figurenopfer auf h7 würde im Sande verlaufen: [27.Sxh7 Sxh7 28.fxg6 Sf8 29.Dh5 e6 30.Tf2 Dc3-+] 27…hxg6 28.Sf3 Se2+ 29.Kh1 Sxc1 30.Lxc1 Dc2

Stellung nach 30... Db2-c2
Stellung nach 30… Db2-c2

Weiß gab auf. Keinesfalls zu früh, denn seine weißfeldrigen Bauern fallen jetzt wie reife Früchte.

3 Gedanken zu „Bergen ruft!“

  1. Deinen Kommentar zu 19.Sa1 finde ich interessant, denn mir fallen auf Anhieb Partien ein, in denen es einen (nicht materiellen) Grund gab, einen Springer in die Ecke zu stellen, wie z.B.

    Aron Nimzowitsch – Akiba Rubinstein, Dresden 1926
    1. c4 c5 2. Sf3 Sf6 3. Sc3 d5 4. cxd5 Sxd5 5. e4 Sb4 6. Lc4 e6 7. O-O S8c6 8. d3 Sd4 9. Sxd4 cxd4 10. Se2 a6 11. Sg3 Ld6 12. f4 O-O 13. Df3 Kh8 14. Ld2 f5 15. Tae1 Sc6 16. Te2 Dc7 17. exf5 exf5 18. Sh1 Ld7 19. Sf2 Tae8 20. Tfe1 Txe2 21. Txe2 Sd8 22. Sh3 Lc6 23. Dh5 g6 24. Dh4 Kg7 25. Df2 Lc5 26. b4 Lb6 27. Dh4 Te8 28. Te5 Sf7 29. Lxf7 Dxf7 30. Sg5 Dg8 31. Txe8 Lxe8 32. De1 Lc6 33. De7+ Kh8 34. b5 Dg7 35. Dxg7+ Kxg7 36. bxc6 bxc6 37. Sf3 c5 38. Se5 Lc7 39. Sc4 Kf7 40. g3 Ld8 41. La5 Le7 42. Lc7 Ke6 43. Sb6 h6 44. h4 g5 45. h5 g4 46. Le5 1:0

    oder

    Luke McShane – Gerald Hertneck, Bundesliga 2001/02
    1. e4 e6 2. d4 d5 3. Sd2 Sf6 4. e5 Sfd7 5. c3 c5 6. f4 Sc6 7. Sdf3 cxd4 8. cxd4 f5 9. Ld3 Sb6 10. Se2 Le7 11. Tg1 Ld7 12. g4 O-O 13. a3 Sa5 14. b3 Tc8 15. Kf1 Sa8 16. gxf5 exf5 17. Ld2 Db6 18. Sc3 Dxb3 19. Dxb3 Sxb3 20. Sxd5 Ld8 21. Tb1 Le6 22. Se3 Sxd2+ 23. Sxd2 Lb6 24. Sf3 Sc7 25. Ke2 Sd5 26. Sxd5 Lxd5 27. Tgc1 g6 28. a4 Tfd8 29. Txc8 Txc8 30. Tb5 Lc6 31. Tb4 Td8 32. Lb5 La5 33. Lxc6 Lxb4 34. Lxb7 Tb8 35. Ld5+ Kf8 36. Lc4 La3 37. Sg5 Tb2+ 38. Kf3 Txh2 39. Kg3 Tc2 40. Sxh7+ Kg7 0:1

    Von der Veröffentlichung eigener Partien, in denen ein Eckfeld für die Umgruppierung eines Springers benutzt wurde (auch die gibt es) nehme ich aber doch lieber Abstand, um das Niveau des Blogs (wie gut, dass man sich beim Genitiv keine Gedanken darüber machen muss, ob es „der Blog“ oder „das Blog“ heißt) nicht zu gefährden.

  2. Danke Holger, du bist gut sortiert. Dass der hypermodernistische Nimzowitsch zu Sh1 gegriffen hat, überrascht weniger. Bei Gerald Hertneck war der Zug Sa8 womöglich eine Spätfolge aus der Zusammenarbeit mit Michael Geveke. Die beiden haben sich bei der Bundeswehr kennengelernt. Michael war und ist bekanntlich Mitglied unseres Vereins. 1982 wurde er in Dortmund Deutscher Jugendmeister! Seit vielen Jahren ist Michael inaktiv; dazu am Schluss mehr. Gerald Hertneck hat eine hervorragende Webseite. Aus seiner darin enthaltenen Biografie möchte ich folgenden Abschnitt zitieren:

    „Im gleichen Jahr stand auch meine Einberufung zur Bundeswehr an. Als Nachwuchstalent kam ich in eine Förderkompanie, die Sportschule in Warendorf. Dort kam ich zum ersten Mal mit einem richtigen Trainer in Kontakt: dem Hamburger Helmut Reefschläger. Zwar nur sporadisch, weil es keinen festen Trainingsplan gab, aber ich merkte doch, dass da jemand einen anderen Zugang zum Schach hatte. Damals war zwar meine Spielfreude und praktische Stärke recht groß, aber von den Waffen eines ausgebildeten Schachspielers, nämlich Theorie und Strategie, hatte ich noch nicht so viel Ahnung.

    Noch mehr aber hat mich in Warendorf der Hannoveraner Michael Geveke schachlich befruchtet. Hier stiessen zwei völlig konträre Charaktere und Schachauffassungen zusammen: ich, der ungestüme Angreifer, der Effekthascher, der Romantiker – Michael, der Verteidigungskünstler, der Meister der Prophylaxe, der Hypermoderne. Natürlich sind beide Ansätze für sich unvollkommen und erst durch deren Synthese konnte es schachlich weiter aufwärts gehen. Heute habe ich eine ziemlich klassische Schachauffassung, und man muss mich schon zum Königsangriff einladen.“

    Michael hatte mir früher von dieser fruchtbaren Zusammenarbeit berichtet. Vor ein paar Monaten, das war kurz nach dem 70. Geburtstag von Helmut Reefschläger, habe ich ihn zufällig auf der Straße getroffen. Dabei hat Michael ausdrücklich Helmuts pädagogischen Fähigkeiten und seine Menschlichkeit gelobt. Um zwischen lauter Kommissköpfen Schach zu etablieren, bedarf es einer starken Persönlichkeit. Ich hatte Michael gebeten, dieses Lob in unserem Blog öffentlich zu verkünden. Da er sich noch ziert, mache ich es hiermit: „Helmut, du bist klasse!“ Und ich gehe davon aus, dass Gerald Hertneck das genauso sieht.

  3. Ich komme gerade aus Bergen zurück. Ihr werdet es kaum glauben: Niedersachsens 1. Seniorenmannschaft ist erstmals Deutscher Meister geworden! Der Sieg war knapp, aber verdient vor Württemberg und Berlin. Zur Mannschaft gehörten: Prof. Dr. Christian Clemens, Juri Ljubarskij, Dr. Matias Jolowicz und Dieter Jentsch. Die 2. Mannschaft mit Gerhard Kaiser, Alexander Schneider, Mihail Davydov und mir belegte den 15. Platz unter 26 Mannschaften. Das Turnier hat meine Erwartungen übertroffen. Ich bin begeistert. Einen ausführlichen Bericht erhaltet ihr im Laufe der Woche.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

* Die Checkbox gemäß Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist ein Pflichtfeld.

*

Ich stimme zu.