… wurde der Verein „Schachfreunde Badenstedt“ gegründet. Dokumentiert in der notariell beglaubigten Satzung aus dem April 1988:
„Schachfreunde Hannover“ lautete bereits seit 1978 unser neuer Name, da waren wir allerdings noch kein eingetragener Verein. Diesen formalen Schritt mussten wir Ende der Achtzigerjahre gehen, sonst wären wir vom Spielbetrieb ausgeschlossen worden. Dass wir die Ortsangabe „Hannover“ tragen durften, war nicht selbstverständlich. Die Bedenken einer Beamtin mussten zuvor ausgeräumt werden. „Schachfreunde Hannover“ heißen die „Schachfreunde Hannover“ noch immer. Durch die Fusion mit der Schachvereinigung um die Jahrtausendwende wurde das Gründungsjahr indes um 31 Jahre vorverlegt. 1919 statt 1950 bzw. 100 statt 69 Jahre lautet das aktuelle Alter. Ich mag die Zahl 69. Man weiß nie, ob sie gerade auf den Füßen oder auf dem Kopf steht. Ihr Wert bleibt stets gleich.
Im Jahr 1959 trat Rainer Zieseniß (Jahrgang 1939) den Schachfreunden Badenstedt bei. Gemessen an der Vereinszugehörigkeit ist er somit das älteste Mitglied. Sechzig Jahre hat er den Schachfreunden die Treue gehalten. Gemäß Verleihungsordnung des Niedersächsischen Schachverbands hat er dafür einen Ehrenbrief verdient.
1975 war der Verein 25 Jahre alt. Ehepartner, die es solange gemeinsam ausgehalten haben, feiern aus diesem Anlass ihre Silberhochzeit. Auf unserer ordentlichen Jahreshauptversammlung im März 1975 standen stattdessen zwei Ausflüge zur Wahl: Entweder eine Eintagesfahrt in unsere nähere Umgebung mit Abendessen und Tanz oder eine Zweitagesfahrt nach Berlin. Die Abstimmung endete mit einem Patt. Ein Fragebogen wurde zum Zünglein an der Waage. Die neigte sich in Richtung Berlin. Das Programm hatte Günter Fischer ausgearbeitet. Dazu gehörte ein Freundschaftstreffen mit dem Schachclub Kreuzberg. Der war gerade mit seinem spektakulären Neuzugang Ludek Pachmann in die Bundesliga aufgestiegen.
Die Zweitagesfahrt mit rund 25 Schachfreunden verlief harmonisch. Für die Abfahrt nach Berlin trafen wir uns am 23. August 1975 um Viertel vor Sechs am Verkehrsverein in der Luisenstraße. Unser 1. Vorsitzender Dr. Hans Wiehler hatte seinen Aufruf mit einem seiner obligatorischen Sprüche garniert: „Frühmorgens, wenn die Hähne krähn, ziehn wir zum Tor hinaus…“ Ob seine Rundfrage: „Wem gehört der VW mit Northeimer Nummer, der vor einer Woche am Ihme-Zentrum mit dem Aufdruck Reklame machte: SF Badenstedt-Niedersachsenmeister 1975“, beantwortet wurde, ist mir nicht bekannt. Zeitzeugen mögen sich gern melden.
Unseren Programm-Direktor der Berlin-Fahrt, Günter Fischer, werden wohl nur noch wenige kennen. Günter war eine schillernde Persönlichkeit. Im Mai 1967 kam er aus dem Nichts, Anfang der Achtzigerjahre verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Dazwischen haben wir einige Hundert Stunden gemeinsam verbracht. – Günter war Gastronom und kam aus Kiel. Dort war offenbar seine Bar abgebrannt. Die genaue Geschichte hat er mir nie erzählt. Vom Geld der Versicherung baute er sich in Hannover, genauer gesagt in Badenstedt, eine neue Existenz auf. Die bestand aus einem Lokal, das so schmal war wie ein Handtuch. Es war eine Mischung aus Bar und Imbiss. „Bei Renate“ hieß es bezeichnender Weise, denn hinter dem Tresen stand Renate, Günters Ehefrau. Renate war schätzungsweise 20 Jahre jünger als Günter, kontaktfreudig, charmant und hübsch. Sie schmiss den Laden, während sich Günter gern in unseren Kreisen aufhielt: Blitzschach oder Doppelkopf bis die Sonne aufging.
Günter war weder ein guter Schachspieler noch ein guter Doppelkopfspieler. Ich glaube, er hat in all den Jahren nicht eine einzige Schachpartie gegen mich gewonnen. Das hat er weggesteckt, obwohl er einen Hang zur Rechthaberei hatte. Günter war der gleiche Jahrgang wie meine Mutter (1924). Am 4. April 1974 feierten wir „Bei Renate“ seinen fünfzigsten Geburtstag. Ich schenkte ihm eine Langspielplatte von den „Singers Unlimited“. Auf die Hülle hatte ich mit Letraset die Zahl 50 gerubbelt. Günter hatte einen guten Musikgeschmack. In Sachen Jazz kannte er sich aus. So schwärmte er z.B. für Al Jarreau, der gerade am Anfang seiner Karriere stand. – Die Geburtstagsfeier dauerte bis zum nächsten Morgen.
Anfangs lief sein Lokal richtig gut. Ein Etablissement dieser Art war eine Marktlücke. Dank Günters Kontaktfreude und Renates Charme gehörten einige Profis von Hannover 96 zu den Stammgästen. Im Gegenzug waren wir häufig bei Bundesligaspielen im Niedersachsenstadion, bis die ehemaligen Leistungsträger wie Walter Rodekamp und Werner Gräber schwächelten. Ihr könnt mich heute mitten in der Nacht aus dem Schlaf holen. Die Namen aller 96-Profis, die 1964 den Aufstieg in die Bundesliga schafften, kann ich euch sofort lückenlos aufsagen. Aber fragt mich bitte nicht nach dem heutigen Kader. Drei bis vier Namen könnte ich ohne nachzuschauen nennen. Damals hatten Fußballprofis einen anderen Stellenwert. Heute sind die meisten eine beliebige Handelsware geworden.
Günters Hang zur Rechthaberei habe ich bereits erwähnt. Einmal hat er einen seiner Gäste verklagt, weil dieser vom mündlich zugesagten Kauf seines Kakadus zurückgetreten war. Geschäftstüchtig war er halt. Wer bei ihm die Fußball-WM 1974 im Farbfernsehen gucken wollte, musste extra 5 DM bezahlen. Renate hatte es nicht leicht mit ihm. Seine aufgeweckte Tochter, die sich an der Schwelle zum Teenager befand, auch nicht. Allein sein Deutscher Schäferhund namens „Rex“ war stets auf seiner Seite. Irgendwann ging es mit dem Lokal bergab. Günter brauchte eine neue Einnahmequelle. Er wurde Versicherungsvertreter. Seine Klientel: die Gastronomie. Wenn Günter einmal den Fuß in der Tür hatte, war es um den Wirt geschehen. Früher oder später machten die Wirte sowieso pleite. Auf eine Versicherung mehr oder weniger kam es dabei nicht an.
Von dem in wenigen Jahren in der Versicherungsbranche verdienten Geld kaufte sich Günter in Spanien eine Eigentumswohnung. Dorthin verschwand er grußlos aus unserem Schachverein und aus meinem Leben. Horst-Peter hat ihn in Spanien einmal besucht und rasch Reißaus genommen. Günter ist vor vielen Jahren verstorben. Gerüchteweise in Ungarn. Renate soll früh an einer heimtückischen Krankheit qualvoll gestorben sein.
Warum erzähle ich das? Weil solche Geschichten zur Tradition eines Vereins gehören. Und zur Identität.
Ich habe nur ein einziges Foto, auf dem Günter Fischer zu sehen ist. Das habe ich euch bereits in einem anderen Zusammenhang gezeigt. Hier ist es noch einmal. Günter steht in der Mitte zwischen Achim Bauer und Manfred Rockel. Er ist der kleine Mann mit der dunklen Turnhose.