Steinhude. Karfreitag, der 27. März 1970. Der Tag war kalt und grau. Die Nacht wurde dramatisch. Doch dazu später mehr. In meinem Beitrag über Lindens Jubiläum habe ich meine Bundeswehrzeit in Rotenburg erwähnt. Das hat mich dazu bewogen, über meine Schachaktivitäten dieser Ära nachzudenken. Zum Vorschein kamen teils rudimentäre, teils konkrete Erinnerungen. Die Rede ist vom 24. Landeskongress des Niedersächsischen Schachverbands, der 1970 in Steinhude stattfand; und zwar in den Strandterrassen. Diese Kongresse, die immer zu Ostern stattfanden, waren auf Funktionärs- und Sportebene das Highlight jeder Schachsaison. Als der Osterkongress in Steinhude lief, hatte ich Schichtdienst in Rotenburg. Daraus ergab sich ein Abenteuer, das ich hier preisgeben möchte. Zum besseren Verständnis – auch unserer gesellschaftlichen Verhältnisse zu der Zeit – muss ich ein bisschen ausholen.
Trotz meiner pazifistischen Grundhaltung – die bis heute anhält – wollte die Bundeswehr meine Dienste nicht missen. 18 Monate betrug damals die Wehrpflicht. Ich hatte Glück, vom Kommisskram blieb ich weitgehend verschont. Das lag an meiner Bestimmung. Ich wurde als Horchfunker ausgebildet. Ein Vierteljahr Grundausbildung in Rotenburg, ein Vierteljahr Spezialausbildung ebendort und ein halbes Jahr Spezialausbildung in Feldafing am Starnberger See waren meine Stationen im ersten Jahr. Die restlichen 6 Monate bestanden aus Schichtdienst in Rotenburg. Wir waren die Soldaten, die den potentiellen Feind rund um die Uhr überwachten, indem wir dessen Funkverkehr abhörten und durch Peilung desselben Truppenbewegungen ausmachen sollten. Das war zwar alles für die Katz‘, aber eingestehen wollte das natürlich niemand der Verantwortlichen.
Während andere im Schlamm robbten, saßen wir in sauberen Klassenzimmern und bekamen Kopfhörer aufgesetzt. Dann gab’s stundenlang Morsezeichen auf die Ohren. Während der Grundausbildung trennte sich alsbald die Spreu vom Weizen. Die meisten Menschen können Morsezeichen bis zu einer Geschwindigkeit von 60 Buchstaben pro Minute unterscheiden und gleichzeitig aufschreiben. Danach verstehen sie nur noch Bahnhof. Man muss Talent und ein musikalisches Gehör haben, denn das Abzählen von Zeichen ist in der Geschwindigkeit unmöglich. Beispiel: dreimal kurz ist ein s, viermal kurz ist ein h, und fünfmal kurz ist eine 5. Morsezeichen haben den Vorteil, dass sie gleichsam im zivilen Leben (z.B. in der Schifffahrt) angewandt werden. So habe ich doch etwas Anständiges gelernt.
Am Karfreitag 1970 hatte ich Frühschicht von 6:00 Uhr bis 12:00 Uhr. Bis zu meiner Nachtschicht, die von 24:00 bis 6:00 Uhr dauern sollte, hatte ich also 12 Stunden frei. Die Zeit nutzte ich zu einem Ausflug nach Steinhude. Mit meinem Ford 12M dauerte die Anfahrt etwa eine Stunde. Ich kam rechtzeitig an, um an einer der zahlreichen Vorrunden des großen Osterblitzturniers teilzunehmen. 144 Schachfreunde waren am Start. In die Endrunde gelangten nur jeweils die ersten beiden einer Vorgruppe. Das Gelingen war sozusagen der Ritterschlag unter den Blitzern. Ich gehörte dazu und belegte am Ende einen guten 9. Platz.
So weit, so gut. Mittlerweile war es verdammt spät geworden. Gegen 23:00 Uhr machte ich mich auf die Rückfahrt. Eine Stunde hatte ich Zeit bis zu meinem Dienstantritt. Das konnte knapp werden. Als ich losfuhr, war es stockdunkel. Dann begann es plötzlich zu schneien. Ach, was sage ich, es waren Schneegestöber, die mir auf den einsamen Landstraßen das Fortkommen erschwerten. Mit der Nase direkt hinter der Windschutzscheibe tastete ich mich auf rutschigem Asphalt gen Rotenburg. Winterreifen: Fehlanzeige. Für Räumfahrzeuge lohnte sich der Aufwand nicht. Mir war so, als sei ich in Norddeutschland der einzige Autofahrer gewesen, der in dieser Nacht unterwegs war. – Es war 1:30 Uhr als ich meinen Dienst antrat. Bundeswehr hin oder her, Pünktlichkeit ist mir heilig. Mein Vorgesetzter nahm’s indes gelassen. Der Feind war friedlich wie eh und je.
Anno 1970 war ich zwanzig. Heute würde ich die Strapazen nicht mehr auf mich nehmen: Frühschicht, Anreise zum Spiellokal, 30 Blitzpartien, Abreise unter abenteuerlichen Bedingungen, Nachtschicht und morgens die Heimfahrt von Rotenburg nach Hannover! Wer jung ist, sollte sich indes nicht scheuen. Wenn wir alt sind, müssen wir etwas zu erzählen haben.
In der Karwoche wurde ansonsten richtig Turnierschach gespielt. 184 Schachspielerinnen und Schachspieler beteiligten sich an den verschiedenen Turnieren. Im Meisterturnier belegten drei Spieler punktgleich die ersten Plätze mit je 7,5:3,5 Punkten: Dieter Weise, Dr. Detlev Müller-Using und Dr. Friedrich Gragger (alle HSK). Dieter Weise wurde zum Niedersachsenmeister erklärt. Auf den ursprünglich vorgesehenen Stichkampf wurde meines Wissens verzichtet. Der Titel blieb so oder so in der HSK-Familie. Vierter wurde der spätere Deutsche Schachpräsident Heinz Hohlfeld (ebenfalls HSK) vor den Brüdern Jürgen und Karl Juhnke (damals beide SVgH, eine unserer Wurzeln). In Diensten der Schachfreunde Badenstedt belegte Peter Brunotte den 5. Platz im Vormeisterturnier.
Im folgenden Jahr (1971) musste sich Dr. Gragger den 1. Platz nicht teilen. In Bad Gandersheim wurde er unangefochten Niedersachsenmeister. Dann verschwand er für immer aus Niedersachsen. Die älteren unter euch werden sich an Prof. Dr. ing. Friedrich Gragger erinnern. Er war ein Österreicher, wie er im Buche steht. Wenn er den Raum betrat, fand er sofort Beachtung. Das lag zum einen an seinem wuchtigen Körper, zum anderen an seiner Aura, die für uns spröde Niedersachsen ungewöhnlich war. Aus beruflichen Gründen war er eine Weile in Hannover tätig; wenn ich mich nicht irre bei Conti. Seine Erfolge im Schachspiel konnten sich sehen lassen. Bei den Österreichischen Staatsmeisterschaften belegte er 1948 und 1951 jeweils den 3. Platz. Für den HSK spielte er am 1. Brett. – Sein Heimatverein war der SV Gmunden. Dort war er bis zu seinem Tod im Jahr 1986 aktiv. Dr. Gragger starb im Alter von 59 Jahren. Offenbar kam sein Tod „plötzlich und unerwartet“, denn er traf ihn, als er an den Oberösterreichischen Landes-Einzelmeisterschaften teilnahm. Die Trauer beim SV Gmunden war dementsprechend groß.
Bei meinen Recherchen bin ich auf einen wunderbaren Film gestoßen, den der lokale Sender salzi.tv im Jahr 2012 anlässlich des 75-jährigen Bestehens des SV Gmunden gedreht hat. Der Film (Dauer 4:30 Minuten) ist wirklich sehenswert und könnte beispielhaft für unsere Breitengrade sein. Es gibt schöne Bilder und kluge Sätze, z.B. vom U8-Meister Stefan Iro: „Schach ist einfach ganz super!“ „Doch Vorsicht! Suchtgefahr!“, haucht die Sprecherin zum Abschluss ins Mikrofon. „Wie wahr, wie wahr!“, möchten wir Süchtigen ihr einmütig zurufen.
Den Film müsst ihr euch unbedingt anschauen: http://salzi.tv/video/75-jahre-schachverein-gmunden/5fb99aaa557dd8d56736044cccaa8cc4
Ist euch der grau melierte Mann mit dem Dreitagebart aufgefallen, der so sympathisch über unsere Sportart plaudert? „Schach öffnet die Gedankenwelt“, sagt er unter anderem. Sein Name: Dr. Hermann Zemlicka. Als ich weiter recherchierte, bekam ich einen Schreck. Kurz nachdem der Film gedreht wurde, verstarb er. Mit 55 Jahren! Einen Nachruf findet ihr hier:
Was aus Dieter Weise geworden ist, weiß ich nicht. Aber die Chronistenpflicht gebietet mir, an einen anderen Todesfall aus der Steinhuder Troika zu erinnern. Im Jahr 2008 verunglückte Dr. Detlev Müller-Using bei einem Verkehrsunfall tödlich, als er sich auf dem Weg zu einem Schachmannschaftskampf befand. Einen Nachruf gibt es auf der Webseite des Godesberger SK:
http://www.godesbergersk.de/index.html?/aktuell/nachruf_mueller-using.html
Zurück ins Jahr 1970: Pech hatte Horst-Peter Anhalt im Jugendmeisterturnier. Mit 7:2 Punkten wurde er knapp von Stephan Buchal (damals Wolfenbüttel heute Werder Bremen) mit 7,5:1,5 Punkten übertroffen. Bis zur letzten Runde hatte Horst-Peter souverän geführt. Dann kassierte er eine unglückliche Niederlage. Bei den Jugendblitzmeisterschaften mit 60 Teilnehmern wurde Horst-Peter Dritter.
Von den Funktionären gibt es auch etwas zu berichten. Es ging heiß her. Über die mangelnde Breiten- und Spitzenförderung von Jugendlichen wurde heftig gestritten. Einen eigenständigen Jugendverband gab es noch nicht. – Die Jugendlichen von damals spielen heute bei den Senioren; siehe Stephan Buchal. „Kinder, wie die Zeit vergeht!“ Das gilt auch für unseren Uwe. Er feierte just seinen 5. Geburtstag, als ich verspätet in Rotenburg meinen Dienst antrat. Mittlerweile hat er das halbe Jahrhundert geschafft.
Was habe ich eigentlich Karfreitag 2015 gemacht? Ich kann mich nicht erinnern. „Verdamp lang her!“ (BAP) Den Endspurt von Hannover 96 vor 45 Jahren in der Fußball-Bundesliga habe ich indes noch vor Augen. In der Saison 1969/70 standen die 96er vom 17. bis zum 33. Spieltag durchgängig auf einem Abstiegs- oder Relegationsplatz. Am letzten Spieltag gab’s einen 4:2 Sieg gegen Kaiserslautern. Damit sprang der 13. Platz in der Tabelle heraus. Wenn das kein gutes Omen für die diesjährige Horrorserie ist! Absteigen mussten 1860 München und Alemannia Aachen. Das nachhaltigste Ereignis im Jahr 1970 war jedoch das Ende einer Modesünde. Der Mini-Rock wurde durch den Maxi-Rock abgelöst. Man stelle sich vor, Frauen würden heutzutage in Miniröcken am Schachbrett sitzen. Über schwindende Mitgliederzahlen im Deutschen Schachbund müssten wir uns jedenfalls keine Sorgen machen!
Hallo Torsten,
die ganzen langen Jahre war ich nie wieder in Rotenburg. Es hat sich nicht ergeben. Nur manchmal, wenn die direkte Bahnstrecke zwischen Hannover und Hamburg gesperrt war, und die Bahn eine Schleife über Rotenburg fahren musste, gab’s ein Wiedersehen; auch wenn es nur der vorbeirauschende Bahnhof war. Zu meiner Bundeswehrzeit war ich selten im Ortskern. Neben unserer Kaserne stand ein Soldatenheim. Das war recht zivil. Dort gab’s die weltweit wohlschmeckendsten Schnitzel. Im Clubraum habe ich mit befreundeten Kameraden häufig Billard gespielt. Das ohne Löcher. Poolbillard wurde hierzulande erst später populär.
Das Gewehr G3 war die einzige Schusswaffe, die ich jemals in meinem Leben in der Hand hatte. Geschossen habe ich damit nur ein einziges Mal auf dem Schießstand. Ansonsten war es irgendwo eingeschlossen oder musste von uns in der Grundausbildung schnellstmöglich auseinander genommen und wieder zusammengesetzt werden. Am Ende sogar mit verbundenen Augen.
Karfreitagsblitzen…
Das habe ich natürlich erst in den 80ern kennengelernt und bin erstmals 1987 in ein Finale gekommen (A-Finale, war für mich eine SENSATION!). Da durfte ich dann auch mal gegen die Michaelsens, Wahls und Rostalskis antreten. Die Berliner Fraktion – früher regelmäßiger Gast – hatte sich leider bereits rar gemacht. Ich meine, dass meine Ausbeute etwa 7/19 betrug.
Eine andere Anekdote aus den letzten Jahren Osterblitz erzähle ich Euch lieber persönlich – hat was mit Fisch und Ehe zu tun 😀
Uwe, du meinst vermutlich „Hamburger Fraktion“. Das Stichwort „Rostalski“ entlockt mir ein Anekdötchen: Walter Rostalski war (ist?) ein begnadeter Blitzspieler. Bei der Deutschen Blitzeinzelmeisterschaft 1979 in Bad Neuenahr-Ahrweiler, an der ich die Ehre hatte, teilzunehmen, wurde er mit 26:9 Punkten Dritter, hinter dem Seriensieger Karl-Heinz Podzielny (31:4 Punkte) und Stefan Ingenerf (27,5 Punkte). In der 7. Runde spielte ich mit Schwarz gegen Walter und verlor.
Ein Jahr später, am 14.09.1980, fand in Hamburg die Norddeutsche Blitz-Einzel-Meisterschaft statt, genauer gesagt beim Ruderclub Favorite Hammonia am Alsterufer 9. Aus Niedersachsen waren Manfred Hermann, Manfred Heilemann, Axel Derikum, Bernard Leiber, Wilhelm Grafe und meine Wenigkeit qualifiziert. Damals war ich frisch verheiratet. Das war Grund genug, meine Frau mit nach Hamburg zu nehmen. In der Mittagspause, die eine Stunde dauerte, wollten wir in einem Schnellrestaurant etwas essen. Etwa zehn Gehminuten vom Spiellokal entfernt wurden wir fündig. Von schnellem Essen war jedoch keine Rede. Die bestellten Portionen kamen und kamen nicht. Ich saß auf heißen Kohlen. Die Zeit verstrich, der Start der Nachmittagsrunde stand unmittelbar bevor. Dann kam das Essen tatsächlich. Ich sagte noch zu meiner Frau: „Komm, iss das mit!“, verließ fluchtartig das Restaurant und hetzte mit leerem Magen zum Spiellokal. Als ich ankam, lief die Runde bereits und meine Uhr natürlich auch. Walter Rostalski saß erwartungsfroh am Brett. Ich hatte vielleicht noch dreieinhalb Minuten auf der Uhr. – Es wurde meine beste Partie, die ich jemals gegen Walter Rostalski gespielt habe. Ich blitzte ihn in Grund und Boden. Walter gab konsterniert auf, und ich hatte noch viel Zeit auf meiner Uhr.
Könnte glatt sein, dass ich die Erstausgabe der Schachmusikanten auch noch finde, zu Händen habe weckt eine übertriebene Erwartungshaltung. In Bremen hatte es seinerzeit einen tatkräftigen Enthusiasten, der seiner Leidenschaft zahllose Stunden opfern konnte.
Nein, Hamburger kamen noch länger – Berlin mit seinen zahllosen Blitzspezis blieb leider schon früher fern.
HEUTE – bleiben Hannoveraner bei den Osterturnieren unter sich (oder fahren nach Bremen zur dortigen LEM).
Von einem Stichwort zum nächsten: von „Rostalski“ zu „Bad Neuenahr-Ahrweiler“. In meiner Vita kommt Bad Neuenahr-Ahrweiler zweimal vor. Das erste Mal im Mai 1979 anlässlich der Deutschen Blitzeinzelmeisterschaft und das zweite Mal am Montag, dem 13. April 1992. Der Montag gehörte zur Karwoche. Mit meiner Frau und meiner Tochter, sie war zu dem Zeitpunkt 11 Jahre alt, hatte ich mich zu einem Kurzurlaub dorthin auf den Weg gemacht.
Wir hatten im Steigenberger Hotel gebucht. Dieser mächtige Bau mit über 200 Zimmern wurde im Jahr 1859 errichtet. Wir waren in einem Hotelzimmer untergebracht, dessen Grundriss offenbar dem Ursprung entsprach. Unser Zimmer war riesengroß. Die Deckenhöhe war gewaltig. – In der ersten Nacht nach unserer Ankunft wurden wir je aus dem Schlaf gerissen. Um 3:20 Uhr erlebten wir ein Naturschauspiel, das ich nie vergessen werde. Der Raum war erfüllt von einem furchterregenden Grollen. Das war so dumpf, so unheimlich, wie man es kaum beschreiben kann. Es dauerte etwa eine Minute. Wir drei waren sofort hellwach und wussten: das kann nur ein Erdbeben sein. Wie sollen wir uns verhalten? Im Hotel blieb es ruhig; der Blick nach draußen zeigte nichts Auffälliges. Wir schalteten das Radio ein. Die folgenden Nachrichten bestätigten unsere Vermutung.
Das schwerste Erdbeben seit 1756 hatte die Region erschüttert. Das Epizentrum lag in Roermond (Niederlande). Das Beben hatte eine Stärke von 5,9 auf der Richterskala. In Nordrhein-Westfalen und in Holland gab es Sachschäden, die bei rund 150 Mio. Mark bzw. 170 Mio. Gulden lagen. Dreißig Menschen wurden verletzt. Unser Hotel trug keine nennenswerten Schäden davon.
In Deutschland denkt man an alles Mögliche, nur nicht an Erdbeben. Insofern können wir uns glücklich schätzen, wären da nicht die künstlichen Phobien, mit denen wir uns das Leben erschweren. Nachdem ich selbst ein eher harmloses Erdbeben live verspürt habe, kann ich nachvollziehen, welche Ängste Menschen haben, die in gefährdeten Gebieten leben. Wenn wie in Nepal der Erdboden aufreißt und Häuser einstürzen, hat dies bei den meisten Betroffenen eine Traumatisierung zur Folge.
Ich bin nach dem Vorfall im Steigenberger Hotelzimmer nicht traumatisiert, dennoch bleibt dieses unheimliche Grollen für immer in meiner Erinnerung haften. Dieses Grollen – fernab vom Epizentrum – erkläre ich mir damit, dass unser Hotelzimmer wegen seiner großen Spannweite wie der Klangkörper eines Musikinstruments gewirkt hat.
Diejenigen, die damals in Hannover geblieben sind, haben dieses Ereignis vermutlich längst vergessen. Wer neugierig geworden ist, kann sich im Internet über das Jahrhunderterdbeben auf deutschem Boden informieren. Ich habe folgenden Link herausgesucht: http://juskis-erdbebennews.de/2015/04/22-jahre-roermond/
Laut Schach-Echo 1970, Nr. 19, fand der Stichkampf um den Landesmeister-Titel im Laufe des Sommers tatsächlich statt und sah Dieter Weise als Sieger vor Gragger und Müller-Using.
Der Stichkampf war tatsächlich geplant. Meinen Insider-Informationen zufolge haben die drei Erstplatzierten aber aus Termingründen auf die Austragung verzichtet. Da alle drei einem Verein angehörten, war es kein Problem, sich auf die Rangfolge nach Wertung zu einigen. Hier ist das komplette Ergebnis des Meisterturniers 1970 in Steinhude:
1. Dieter Weise (HSK) 7,5:3,5 Punkte
2. Dr. Müller-Using (HSK) 7,5:3,5 Punkte
3. Dr. Gragger (HSK) 7,5:3,5 Punkte
4. Hohlfeld (HSK) 6,5:4,5 Punkte
5. J. Juhnke (SVgH) 6,5:4,5 Punkte
6. K. Juhnke (SVgH) 6,0:5,0 Punkte
7. Rosin (SVgH) 5,5:5,5 Punkte
8. Kranz (Göttingen) 4,5:6,5 Punkte
9. Hörig (Vahrenwald) 4,0:7,0 Punkte
10. W. Frieling (Vahrenwald) 3,5:7,5 Punkte
11. Harringer (Winsen) 3,5:7,5 Punkte
12. W. Malcher (Anderten) 3,5:7,5 Punkte
Kaum hatte ich den Namen J. Juhnke in die Tastatur gegeben (5. Platz 1970 in Steinhude), habe ich auf der Webseite des DSB die Entdeckung gemacht, dass Jürgen den Deutschland-Cup 2016 in Wernigerode gewonnen hat. Guckt ihr hier:
http://www.schachbund.de/news/deutschland-cup-wernigerode-2016-beendet.html
46 Jahre liegen zwischen Steinhude und Wernigerode. Seine Spielstärke ficht das nicht an. Mein Glückwunsch ist ihm gewiss!
Ursula von der Leyen sucht nach einem neuen Namen für die Lent-Kaserne in Rotenburg (Wümme). Mein Vorschlag ist, den berühmtesten Rekruten als Namensgeber auszuwählen (siehe oben), der jemals in dieser Kaserne seinen Dienst tat und nachweislich keine 100 Kampfflugzeuge abgeschossen hat. Ihr ahnt es. In aller Bescheidenheit empfehle ich folgenden Namen:
Streich-Kaserne
Hier ein kleiner Auszug aus meinem Repertoire:
Horch- und Peilfunker, Pazifist, Gutmensch, Weltretter, Visionär, Warmduscher, Spaßvogel, Seelentröster, Pedalritter, Quartalspatzer, Blogger für Arme, letzter Optimist vor der Autobahn und Frauenversteher.
Wenn diese Fähigkeiten nicht überzeugen, weiß ich auch nicht. Kennt jemand Uschis Telefonnummer?
Karfreitag 2020
Karfreitag 1970 in Steinhude. 50 Jahre ist das nun her! Aus diesem Grund habe ich meinen Beitrag, den ich vor 5 Jahren veröffentlicht hatte, aus dem Archiv geholt. 50 Jahre sind kein Pappenstiel, dennoch habe ich das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug vergangen ist. Willy Brandt war damals Bundeskanzler. Wenn es darum geht, ein Ereignis aus dem Jahr 1970 hervorzuheben, so ist es sein Kniefall in Warschau. Seine spontane Handlung wurde zum Symbol für eine neue Ära. Bemerkenswert ist das, was seine Frau Rut Brandt später dazu gesagt hat:
Dann kniete er, der es nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können.
Dieser Satz hat in meinen Augen eine hohe Symbolkraft, denn Wagemut ist nichts für Konformisten, die sich an das klammern, was ihnen einmal beigebracht wurde. Querdenken ist für sie eine Sünde. Religionen sind ein Beleg dafür.
Plötzlich werden wir von einem Winzling wachgerüttelt: dem Corona-Virus. Was nun? Die Welt ist unvorbereitet. Ängste machen sich breit. Die einen fürchten um ihr Leben, die anderen um ihre Gewohnheiten. Das betrifft auch die unwichtigste Spezies: uns Schachspieler. Wünschenswert wäre, die Krise für eine Renaissance der wahren Werte zu nutzen. Früher war bestimmt nicht alles besser, aber menschlicher, weil das Schachspiel nicht überfrachtet war.
Online-Blitzturniere sind in der gegenwärtigen Krise eine Notlösung. Ohne Erlebnisse wie 1970 in Steinhude sind sie indes blutleer. Menschliche Nähe und direkte Begegnungen lassen sich nicht simulieren.
Frohe Ostern und keine Panik!