Wisst ihr noch, was ihr 1996 gemacht habt? Schon vergessen? Mir fällt die Erinnerung leicht, weil ich den Sonnenkönig aufbewahrt habe. In der Ausgabe Nr. 13 steht: Gerhard hat an drei Schach-Open teilgenommen, in Velden am Wörthersee, in Wiesbaden beim Schlosspark-Open und in Würzburg beim 12. Open. – In den vergangenen Wochen waren Reisen tabu. Meine letzte Fahrt mit dem ICE hatte ich am Rosenmontag in die Narrenhochburg Mainz. Wenige Tage später kam der Shutdown. Die Deutsche Bahn sucht seitdem händeringend nach Fahrgästen. „Ein Ticket in die Vergangenheit kann für Abhilfe sorgen“, dachte ich mir und kaufte mir für gestern (Fronleichnam) eine Rückfahrtkarte nach Würzburg mit einem Abstecher nach Schweinfurt.
„Wieso Schweinfurt?“, werdet ihr fragen. Schweinfurt liegt rund 40 km nordöstlich von Würzburg und fristet in unserer Wahrnehmung ein Mauerblümchen-Dasein. Dieses Image passt gar nicht zu Gunter Sachs, Deutschlands berühmtesten Gentleman-Playboy, der in Schweinfurt geboren wurde und hier seine Kohle generiert hat (Fichtel & Sachs). Heute scheffelt dort Frau Schaeffler mittels Wälzlager (SKF). – In Schweinfurt konnte ich 1996 meinen Beruf mit meinem Hobby verbinden. Das einzige Mal in meinem Leben hatte ich eine Baustelle in Bayern – genauer gesagt in Unterfranken – zu leiten. Und so bot es sich an, dass ich in der Endphase des Projekts in Würzburg an dem Schach-Open teilnahm und täglich nach Schweinfurt pendelte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Das Würzburger Open lief gut, die Schweinfurter Baustelle dank ortsansässiger Unternehmen ausgezeichnet.
1996 hatte ich weder in Würzburg noch in Schweinfurt die Gelegenheit, mir die Städte genauer anzugucken. Das habe ich gestern nachgeholt. Heraus kamen 6 Stunden Fußmarsch bei bedecktem Himmel. Schweinfurts Altstadt ist überschaubar. Nichtsdestotrotz gibt es dort sehenswerte Eyecatcher; z.B. diese Skulptur vor der Kunsthalle. „Power-Mädchen ohne Schachbrett“ würde ich sie nennen.
Würzburg hat doppelt so viele Einwohner wie Schweinfurt, eine Menge Studenten und eine Festung, die ich bislang nur vom Vorbeifahren kannte. Gestern bin ich hinaufgestiefelt. Es lohnt sich. Für den Aufstieg empfehle ich euch die Rückseite des Marienberges. Dort fand 1990 die Landesgartenschau statt. Geblieben ist eine wunderschöne, gepflegte Anlage, die bei einigen Höhenmetern kostenlos durchschlendert werden darf. Die Marienfestung selbst ist beeindruckend. Es gibt einen äußeren Burghof und einen inneren Burghof, die von mächtigen Wänden aus Quadersteinen umfasst sind. Für den Rückweg empfehle ich euch den steilen Abstieg auf der Mainseite. Man landet direkt vor der historischen Mainbrücke, die gestern für Stehpartys genutzt wurde.
Am 12. Würzburg-Open 1996 nahmen 117 Schachspieler teil. Das Turnier gewann Aleksander Wojtkiewicz (* 15. Januar 1963 in Lettland; † 14. Juli 2006 in USA) vor Zbigniew Ksieski (* 1. Januar 1954 in Polen; † 26. Mai 2018 in Polen) mit je 6:1 Punkten. Ich holte 4:3 Punkte, wobei ich zwei Partien verlor: gegen GM Valentin Arbakov (* 28. Januar 1952 in Russland; † 30. November 2003) und Andreas Luft. Gegen den Dähne-Pokalsieger von 1977, Peter Dankert (* 1953; † 2004), erzielte ich ein Remis. Höhepunkt war mein Sieg gegen den FM Andre Lisanti. Die Partie begann für mich ernüchternd. Durch eine Ungenauigkeit in der Eröffnung hatte ich einen Bauern verloren, was mich dazu beflügelte, einen weiteren Bauern ins Geschäft zu stecken. Dieses Danaergeschenk bekam meinem Gegner nicht. Er revanchierte sich durch ungenaue Züge, wodurch wir diese Stellung auf dem Brett hatten:
FM Andre Lisanti – Gerhard Streich
Schwarz am Zug
Angesichts des Damengewinns zog ich freudig erregt 28… Txb2+ und gewann die Partie problemlos. Erst 24 Jahre später habe ich entdeckt, dass ich meinen Gegner an dieser Stelle zwangsläufig mattsetzen konnte. Guckt euch dieses Diagramm bitte eine Weile an und entscheidet euch für einen anderen Zug. Weiß kann das Matt maximal 6 Züge hinauszögern.
Hier ist die ganze Partie:
Sehenswert ist auch mein Sieg in der ersten Runde gegen Erich Kaiser. Ein Figurenopfer im 20. Zug brachte mich auf die Siegerstraße:
Schach und Lebenserwartung
Beim Blick auf die Abschlusstabelle des Jahres 1996 sind mir zwei Besonderheiten aufgefallen: Erstens haben viele Schachprofis aus den Baltischen Staaten teilgenommen, und zweitens sind viele Schachprofis früh verstorben. Auf den ersten Plätzen sieht das wie folgt aus:
1. Platz Aleksander Wojtkiewicz / Lettland / 15.01.1963 – 14.07.2006 = 43 Jahre
2. Platz Zbigniew Ksieski / Polen / 01.01.1954 – 26.05.2018 = 64 Jahre
3. Platz Leonid Gofshtein / Israel / 21.04.1953 – 25.12.2015 = 62 Jahre
5. Platz Jānis Klovāns / Lettland / 09.04.1935 – 20.10.2010 = 75 Jahre
6. Platz Aloyzas Kveinys / Litauen / 09.07.1962 – 26.07.2018 = 56 Jahre
9. Platz Valentin Arbakov / Russland / 28.01.1952 – 30.11.2003 = 51 Jahre
16. Platz Aivars Gipslis / Lettland / 08.02.1937 – 13.04.2000 = 63 Jahre
Die hohe Teilnehmerzahl aus den Baltischen Staaten (drei weitere leben glücklicherweise noch) liegt vermutlich darin begründet, dass deren Unabhängigkeit erst rund 5 Jahre zuvor erfolgt war, und das Interesse für Schachprofis groß war, im westlichen Ausland Geld zu verdienen. Nichtdestotrotz ist deren Sterberate und die der anderen Schachprofis signifikant. Liegt das frühe Ableben an der Herkunft, am Beruf, oder gibt es andere Gründe? Oder ist das doch nur ein Zufall?
Falls professionelles Schachspielen das Leben verkürzt, wäre die Einstufung als Risikoberuf anzuraten. Mit anderen Worten: Augen auf bei der Berufswahl! Ernsthaft würde mich interessieren, ob es zu dem Thema bereits soziologische Studien gibt.
Schweinfurt in Bildern
Nordlichter verschlägt es normalerweise nicht nach Schweinfurt, weil die Stadt nicht direkt auf der Nord-Süd-Route liegt. Dabei ist Schweinfurt in Unterfranken ein wichtiger Standort der Industrie. Schweinfurt besitzt das dritthöchste Bruttoinlandsprodukt und die zweithöchste Pendlerquote Deutschlands. Wer hätte das gedacht!? Woher kommt eigentlich der Stadtname? Fast jeder würde antworten: „Weil dort früher die Schweine an einer seichten Stelle durch den Main getrieben wurden.“ Stimmt aber nicht. Der Name wurde von der niederländischen Bezeichnung „Zwin“ für einen Priel abgeleitet.
Damit ihr euch ein Bild von Schweinfurt machen könnt, habe ich ein paar Fotos angehängt. Die Qualität leidet ein wenig unter dem trüben Himmel, den ich vorgefunden hatte. Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein. Der ortsansässige Bauunternehmer, mit dem ich es 1996 zu tun hatte, war über das Schweinfurter Klima not amused. Im Jahr zuvor soll die Sonne im Winterhalbjahr nicht einmal zum Vorschein gekommen sein. Das war wohl übertrieben, aber das sogenannte „Schweinfurter Becken“ hat seine eigenen Gesetze. Der Klimawandel wird Schweinfurt in den vergangenen 24 Jahren nicht ausgespart haben; trotz fehlender Sonne an Fronleichnam.
Zu den Fotos möchte ich noch folgende Hinweise loswerden: Friedrich Rückert (*16.05.1788; †31.01.1866) ist der wohl berühmteste Sohn der Stadt (abgesehen von Gunter Sachs). Der Dichter galt als Sprachgenie. Er soll sich mit 40 Sprachen beschäftigt haben. Ein sprachlicher Stolperstein ist der Schrotturm. Bitte nicht verwechseln mit Schrottturm. Das angrenzende Gebäude wurde für die Herstellung von Schrotkugeln errichtet. Wälzkugeln sind das Geschäftsmodell der Firma SKF. Vor dem Haupteingang der Firmenzentrale befindet sich ein Brunnen, der einem Wälzlager nachempfunden ist. Durch Wasserkraft dreht es sich ständig um die eigene Achse.